top of page

Der gemäßigte Außenseiter


Heute morgen kam ich als letzter nach dem Aufstehen bei uns im Wohnzimmer an. Die Kinder waren auf der Couch vertieft in ein Computerspiel und meine Frau saß am Esstisch, vertieft in ihre Emails. Ich zog mir erstmal einen Kaffee und setzte mich dann ihr gegenüber an den Tisch, was sie anscheinend - ganz in Computertrance - nicht mitbekam und so zog es mich nach einigen Minuten auf den sogenannten “Opa-Sessel”. Nachdem ich diesen von diversen Spielsachen freigeräumt hatte, wurde es sichtlich bequemer und ich schaute in das verregnete Grün und lauschte dem Plätschern der Tastaturanschläge meiner Frau. Ein ganz normaler Morgen.


Im Gedanken ploppte ein Gespräch vom gestrigen Abend auf - ich und meine Frau unterhielten uns über den Alltag und vor allem über die Kinder. Wie so oft kamen die üblichen Themen auf den Tisch: Wir sind nicht konsequent genug, die hängen zu viel am Computer, die müssen sich besser benehmen usw. Meine Frau hatte das Thema am Abend zuvor auch mit ihrer Freundin, die ähnliche Punkte auf ihrer täglichen Agenda hat. Allerdings ist sie bei einigen Sachen super streng und sie begründete dies mit “Man will ja keine Außenseiter ranziehen und sie müssen ja auch mit anderen zurecht kommen.” Das wollen wir natürlich auch nicht und mir kam spontan die Frage: “Wenn ich durch meine Erziehung keinen Außenseiter heranziehen möchte, was soll er dann werden?” Nach kurzer Zeit antwortete meine Frau:


“Ein Mitläufer”


Genau - das war auch das erste, was mir einfiel, aber mal ehrlich: Will ich das? Wozu dient eigentlich die ganze Erziehung? Vera F. Birkenbihl hat ja schonmal so schön formuliert: “Wir wären alle perfekte Homosapiens geworden, wenn da nicht die Erziehung dazwischen gekommen wäre”. Da ist was dran. Sind es nicht eigentlich genau die anderen Menschen - die “Außenseiter” oder nennen wir sie mal “anders Denkenden” - die so viele Menschen bewundern und die großes geleistet haben? Ich habe krampfhaft einen Mitläufer gesucht, der großes bewegt hat - im Kollektiv natürlich schon, ja - aber einzelne Personen? Eher unauffällig. Das soll nicht heißen, dass es nicht gut ist, im Kollektiv zusammen zu arbeiten und unauffällig zu sein. Aber nur, wenn man das auch selber möchte und sich gut dabei fühlt und nicht, weil man so erzogen wurde.


Das ist ja auch das, was man versucht zu erreichen: Unauffällig oder zumindest nur “gut auffällig”. Wer hört nicht gerne die Sätze: “Also eure Kinder können sich aber toll benehmen.” oder “Mein Gott, sind die süß?”. Aber ist es dass, wie Kinder wirklich sein sollten? Warum genau ist es eigentlich gut, wenn ich meinem Kind aberziehe, seine Gefühle und Meinungen frei zu äußern? Klar ist es nicht schön, wenn meine Tochter in Anwesenheit der Oma sagt: “Ich will nicht zu Oma” und dabei zetert, aber was genau ist daran falsch? Meine Schwiegermutter meinte im Nachgang dann wohl, das habe mit “Respekt den älteren gegenüber zu tun”. Muss ich meine Kinder dazu erziehen, Respekt gegenüber älteren zu haben? Ja - sehe ich schon so und das haben die beiden auch. Die Frage ist nur, gehörte diese Äußerung dazu? Oder wäre es nicht respektlos zu lügen: “Oh, ich bin so gerne bei Oma”? Lügen soll man ja auch nicht….schwieriges Thema?!


Ich stelle mir sehr oft solche Fragen, da ich natürlich will, dass meine Kinder gut mit anderen zurecht kommen, aber das wichtigste für mich ist: Das sie sind, wer sie sind und wie sie sind und das auch für gut erachten. Da gehört für mich Ehrlichkeit (auch sich selbst gegenüber) an erste Stelle. Warum haben wir eigentlich so ein Problem damit, wenn unsere Kinder anderen gegenüber mal nicht so sind, wie es erwartet wird? Ich glaube das liegt nur daran, dass wir auch “verzogen” wurden. Ich musste damals auch zu Verwandten, auf die ich keine Lust hatte, aber wehe ich hätte das dort geäußert. Es langte ja schon, wenn man nur still am Tisch saß und kein Dauerlächeln auf den Lippen hatte - schon gab es eine Ansage. Und weil wir das nicht durften, sollen unsere Kinder das auch nicht. Ist quasi unsere Genugtuung diesen Ball dann weiter zu geben. Da mache ich nicht mit. Gelingt mir natürlich nicht immer, denn Kinder haben die Eigenschaft, immer genau die wundesten Punkte zu finden und diese anzutriggern. Wer da immer ruhig bleiben kann ist wahrscheinlich buddhistischer Mönch oder so.


Ich für mich spiele schon seit sehr langer Zeit nicht bei dem Spielchen “das macht man halt so” oder “die müssen doch…” mit. Natürlich gibt es Grenzen, und die werden auch eingehalten - aber bitte nur Grenzen, die man sinnvoll begründen kann und nicht mit “das ist halt so”. Meine Frau verfängt sich ab und zu immer noch in dem “was denken die anderen” - das habe ich weitestgehend abgelegt. Ganz ehrlich: Wer weiß, was die wirklich denken? Wahrscheinlich gar nichts…. Und wenn ja, lass sie doch. Ich denke auch alles Mögliche - ist ja schließlich nicht verboten. Unsere Kinder sind auf jedenfall nicht dazu da, um zu zeigen, was wir für tolle Eltern sind. Ich möchte unsere Kinder nicht zu den Objekten unserer Erwartungshaltungen und unserer Sehnsüchte machen. Diese Projektionen bringen meiner Meinung nach nur Unheil und sind nicht hilfreich. Denn wenn die Kinder dann nicht so werden wie erwartet, dann macht man sie gleich noch zum Objekt seiner Bewertungen, seiner Maßnahmen und am Ende vielleicht noch seiner Bestrafungen. Da fühle ich mich doch direkt an meine Kindheit erinnert.


Ich persönlich glaube, dass die Kinder genug lernen, indem Sie beobachten und mitbekommen, wie alle Bezugspersonen um sie herum agieren und natürlich den Kindern auch sagen, wenn ihre Grenzen erreicht sind. Ich weiß nicht von wem der Spruch ist, aber ich sage ihn immer wieder gerne: “Versuchen sie nicht ihre Kinder zu erziehen, sie machen ihnen eh alles nach.” Die große Kernkompetenz liegt im Miteinander und nicht im Gegeneinander. Natürlich muss es auch Konfrontationen geben - ist wichtig zu erleben, wie Menschen sich in Extremsituationen verhalten. Übrigens auch sehr spannend zu sehen, wie man selber in extremen Situationen reagiert - da konnte ich auch schon an mir sehr spannende Beobachtungen machen. Entscheidend ist, dass man alle Menschen als Subjekte und nicht als Objekte versteht. Daran krankt in unserer Gesellschaft glaube ich sehr viel.


Zum Schluss des Gespräches wollten wir natürlich auf einen gemeinsamen Nenner kommen. Tja - was will man denn jetzt? Einen Menschen ins Leben bringen, der gut in unserer Gesellschaft zurecht kommt, aber nicht zu sehr mitläuft? Also quasi den “gemäßigten Außenseiter”. Das hört sich für mich irgendwie nicht gut an - nichts halbes und nichts ganzes?! Müssen wir uns also entscheiden, ob wir einen Mitläufer oder einen Einzelkämpfer ins spätere Leben entlassen? Ich glaube die Entscheidung liegt tatsächlich gar nicht auf der Hand - da macht man die Kinder nämlich schon wieder zum Objekt seiner Erwartungen. Ich denke man sollte einfach sein, wie man ist und den Kindern auch sagen, wenn sie etwas gut oder schlecht gemacht haben. Und auch zeigen, wenn man sauer oder gut gelaunt ist - und vor allem auch immer erklären, warum. Letztendlich glaube ich, dass man einen jungen Menschen am Besten ins Leben bringt, wenn er möglichst viele Menschen mit ihren ganzen Eigenarten kennenlernt und sich daraus dann selbst seinen Erfahrungsschatz bildet. “Erziehung” ist für mich ein nicht mehr zeitgemäßes Wort, auch wenn viele dass anders sehen. Ob ich recht habe und wie dass bei uns funktionieren wird …. fragt mich nochmal in zehn bis fünfzehn Jahren.


Bleibt gesund und wach!


bottom of page