Beziehungsweise: Freiheit
- Misar
- 15. Nov.
- 4 Min. Lesezeit

Neulich hörte ich beim Arbeiten einen Podcast. Eine Frau erklärte darin, warum sich immer mehr Männer aus dem ganzen Dating-Spiel zurückziehen. Warum viele einfach keine Lust mehr haben, anzutreten, zu konkurrieren, zu kämpfen – weder online noch im echten Leben.
Auch wenn alle von Gleichberechtigung reden, wird von vielen Frauen immer noch erwartet, dass der Mann den ersten Schritt macht. Das ist gerade für introvertierte Männer wirklich schwierig (aus vergangenen Erfahrungen weiß ich sehr gut, wovon ich rede).
Heutzutage kommt dann oft noch hinzu, dass viele Frauen verständlicherweise ihre negativen Erfahrungen gemacht haben – mit aufdringlichen Männern, Grenzüberschreitungen oder schlicht Idioten. Dementsprechend sind viele in Habachtstellung, wenn ein fremder Mann auf sie zukommt.
Wenn ein Mann heute eine Frau anspricht, kann er fast alles erleben:
höflich abgelehnt werden – völlig okay
ignoriert werden
ausgelacht werden
oder gleich die volle Ladung Misstrauen: „Was willst du von mir?“
Nicht selten holt sich der Kontaktaufnehmende dabei eine herbe Abfuhr, oder wie man neudeutsch sagt: Er wird „gekorbt“. Es mag Männer geben, denen das wenig ausmacht und die einfach weitermachen. Aber bei vielen hinterlässt es eine tiefe Wunde. Ein paar Mal erlebt – und man(n) zieht sich komplett zurück.
Die Podcasterin gab ihren Zuhörerinnen deshalb einen einfachen – wie ich finde selbstverständlichen Tipp:
Wenn ein Mann – auch wenn er überhaupt nicht dein Typ ist – freundlich zu dir ist, dann sei du bitte ebenfalls freundlich. Man kann auch freundlich einen Korb geben. Das gilt natürlich auch umgedreht.
Für viele Männer ist dieser erste Schritt ohnehin schon schwer genug. Und Hand aufs Herz: Die Datingszene ist heute ein Schlachtfeld aus Bildern, Erwartungen und Vergleichen. Gerade online wird es für viele Männer extrem schwierig. Nicht, weil sie „zu wenig bieten“, sondern weil der Markt komplett überdreht ist.
Unter dem Podcast stand der meistgelikte Kommentar:
„Keine Frau ist so schön wie meine Ruhe.“
Ich musste wirklich lachen. Nicht zynisch – eher wissend. Und darunter noch viele Kommentare von Männern, die genau das bestätigten: Sie haben einfach keine Lust mehr auf dieses Spiel.
Die Podcasterin erklärte weiter, dass Online-Dating für Frauen heute oft wie ein Buffet ist: hundert Nachrichten am Tag, Dutzende Matches, Auswahl ohne Ende.
Für Männer dagegen gleicht es eher einem leeren Kühlschrank:
zwei Matches im Monat – wenn überhaupt – und beide sind Bots.
Und dazu kommt der permanente Vergleichsdruck:
Die perfekt gestylten Männer mit 2-Meter-Körper, Sixpack, Yacht und Hund (oder zumindest mit gutem Photoshop).
Aber wer kann da mithalten, ohne zu faken? Viele nicht. Und viele wollen es auch gar nicht. Natürlich gilt das Ganze auch umgekehrt für Frauen. Das ganze Social-Media-Theater ist doch am Ende nur Fake.
Die Sozialpsychologie sagt:
Frauen filtern online wesentlich stärker als Männer. Männer werden im Durchschnitt 15-fach seltener nach rechts gewischt. Kein Wunder also, dass viele irgendwann sagen: „Warum soll ich mich dem noch aussetzen?“ Aus Gesprächen in meinem Freundeskreis kann ich das nur bestätigen.
Einer meiner längsten Freunde sagte neulich: „Ich bin mit meinem Sohn ein gutes Team. Wozu brauche ich eine Frau? Das bringt nur Stress. Ich brauche niemanden, der mir erzählt, was ich zu tun und zu lassen habe.“
Er ist ein gestandener Mann, erfolgreich, gebildet – aber er hat einfach keinen Nerv mehr auf dieses Spiel. Und er ist damit längst nicht allein.
Mir geht es ähnlich. Meine Frau und ich sind ein gutes Team und gemeinsam mit unseren Kindern eine tolle Familie. Es gibt auf beiden Seiten neue Lebenswegbegleiter, aber muss man deswegen gleich wieder zusammenziehen und die große Liebe spielen? Eher nicht.
Mir reicht liebevoller Kontakt und gelegentliche gemeinsame Zeit völlig aus. Nochmal mit jemand Neuem zusammenwohnen? Vielleicht – aber eher in einer Art WG mit gelegentlicher Nähe.
Vielleicht ist das genau bei Menschen so, die souverän für sich stehen und finanziell unabhängig sind. Ironischerweise sind das dann oft genau die Singles, nach denen alle suchen – die aber gar nicht mehr zur Verfügung stehen.
Aus meiner Erfahrung mit vielen Menschen weiß ich:
Oft wird „der oder die Eine“ gesucht, die das eigene Leben rettet, die mich ganz macht.
Und aus meiner Erfahrung weiß ich auch: Das klappt nie, denn die Menschen, die das wirklich könnten, hätten gar keine Lust darauf.
Brauchen wir überhaupt noch Beziehungen?
Damit komme ich zu einem Gedanken, der sich bei vielen Männern und Frauen jenseits der 40 einschleicht: Wenn ich stabil bin, souverän, finanziell unabhängig, vielleicht schon Kinder habe und liebe Menschen in meinem Umfeld … brauche ich dann überhaupt noch eine klassische Beziehung? Brauche ich jemanden, der meinen Alltag verändert? Oder sogar komplizierter macht? Eher nicht.
Aber die Frage dahinter ist viel tiefer:
Geht es wirklich darum, niemanden mehr zu wollen?
Oder geht es darum, niemanden mehr zu brauchen?
Der Unterschied ist riesig. Und viele Menschen spüren zum ersten Mal im Leben, wie Freiheit schmeckt – und dass man trotzdem lieben kann. Mit meiner heutigen Erfahrung würde ich sogar sagen:
Liebe = Freiheit
Ich glaube, Beziehungen funktionieren heute dann am besten,
wenn sie nicht mehr aus Bedürftigkeit, sondern aus entspannter Wahl entstehen.
Wenn zwei Menschen sich nicht brauchen – sondern sich in Freiheit und gegenseitiger Wertschätzung begegnen.
Wenn Ruhe schöner ist als Drama – aber Zweisamkeit schöner ist als Alleinsein.
Wenn man jemanden findet, der die eigene Ruhe nicht zerstört, sondern erweitert.
Vielleicht ist das die neue Beziehung?
Nicht Mann jagt Frau, nicht Frau testet Mann. Sondern zwei Menschen begegnen sich.
Ganz ohne Spiel.
Bleibt gesund und wach!




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