Der ist ja wie ich...
- Misar
- vor 5 Tagen
- 3 Min. Lesezeit

Es gibt Begegnungen, die fühlen sich an wie ein Blick in ein Paralleluniversum. So ging es mir heute, als ich nach über einem Jahr wieder meinen Vater getroffen habe.
Wir haben uns nie viel gesehen, eigentlich nie wirklich gekannt. Er war in meinen frühen Jahren wohl ein guter Vater – und dann irgendwann plötzlich weg.
Vor einigen Jahren fing er an, sich ein- bis zweimal im Jahr zu melden. Insgesamt hat er sich in den letzten Jahren vermutlich häufiger gemeldet als in meinem gesamten Leben zuvor.
Heute war es wieder soweit.
Wir trafen uns zum Frühstück in einem Hotel, und als ich ankam, saß er bereits in der Lobby. Und obwohl wir völlig getrennte Leben geführt haben, sehe ich ihn … und erkenne etwas, das ich selten bei anderen finde:
mich selbst.
Beim letzten Treffen – ebenfalls nach langer Pause – war mir zum ersten Mal etwas seltsames aufgefallen.
Ich war damals wegen einer kleinen rauen Stelle im Gesicht beim Hautarzt gewesen. Nichts Dramatisches, nur etwas Creme. Man sah es noch leicht.
Als ich meinen Vater sah, bemerkte ich, dass er an exakt derselben Stelle ebenfalls eine behandelte Stelle hatte. Als ich ihn darauf ansprach, meinte er nur:
„Ja, da war ich beim Hautarzt, eine Kleinigkeit, wurde mit Creme behandelt.“
Zufall?
Vielleicht. Aber manchmal fühlt sich ein Zufall zu symbolisch an, um noch ein Zufall zu sein.
Heute, ein Jahr später, saßen wir wieder zusammen. Und im Gespräch erfuhr ich viel über seine Beziehung zu meiner Mutter, über meine Großeltern, über meinen Onkel, meine Tante – und vor allem über sein Leben. Und da tauchte eine überraschende Parallele auf:
Meine Mutter hatte früher einmal gesagt, es sei ein Fehler gewesen, in den „Dunstkreis“ von seinem Vater zurückzuziehen.
Heute meinte mein Vater das Gleiche – und gab offen zu, dass er als junger Mann nicht stark genug war, sich von seinem dominanten Vater zu lösen. Erst viele Jahre später gelang ihm das.
Er war insgesamt dreimal verheiratet, hat (mich mitgerechnet) drei Kinder und lebt inzwischen in einer langjährigen Beziehung. Mit seiner dritten Frau hat er aber weiterhin ein gutes Verhältnis – er wohnt dort, und beide kümmern sich gemeinsam um die Kinder und sogar um die Schwiegereltern. Je mehr er erzählte, desto mehr dachte ich:
Er spricht über mein Leben.
Genau wie ich hat er seine Inseln der Nähe – und seinen heiligen Rückzugsort, den er immer wieder braucht. Schon sein ganzes Leben lang. Und plötzlich wurde mir klar, wie viele Parallelen da sind.
Ohne gemeinsame Zeit.
Ohne Erziehung.
Ohne Einfluss.
Er und ich – zwei Menschen, die das gleiche Thema leben:
Kein Heimatgefühl, mehr so „wherever I lay my hat, that‘s my home.“
Viel Raum für sich.
Der Wunsch nach Nähe, aber nur dosiert und ein Leben, das sich eher wie eine innere Landschaft anfühlt als wie eine äußere. Es war irritierend und zugleich verbindend. Ich hörte ihm zu und dachte: „Er ist genau richtig, wie er ist – und lebt sein Leben.“
Und dann kam der zweite Gedanke: Moment mal … dann bin ich das vielleicht auch.
Man denkt ja oft, man wird geformt durch das, was man erlebt hat. Durch Erziehung, durch Vorbilder, durch Verletzungen. Aber es gibt auch die andere Hälfte – die, die wir nicht wählen:
Unsere Gene.
Unsere Linien.
Unser unsichtbares Gepäck.
Ich habe nie erlebt, wie er lebt. Immer nur Nanosekunden seines Universums. Und trotzdem ähnelt sein Leben meinem in vielen Punkten.
Das hat etwas mit mir gemacht. Nicht dramatisch, eher leise. Wie eine Tür, die einen kleinen Spalt aufgeht.
Ich habe heute verstanden, wie viel wir weitertragen, ohne dass jemand es uns bewusst gegeben hat. Dass Verhalten, Muster und Lebensgefühle nicht nur Erziehung sind, sondern auch Biologie.
Epigenetische Studien zeigen, dass bis zu die Hälfte unserer Persönlichkeit genetisch verankert ist. Nicht nur Augenfarbe und Größe, sondern auch:
wie wir Nähe suchen
wie wir Distanz halten
wie wir Bindung leben
wie wir Stille brauchen
wie viel Heimatgefühl wir haben – oder eben nicht
Vielleicht habe ich mich deshalb immer so „anders“ gefühlt. Weil ich die Hälfte meiner inneren Landkarte nie kannte. Oder weil ich sie – durch die Erzählungen meiner Mutter – lange als „schlecht“ abgestempelt habe.
Und dann sitzt da plötzlich dieser Mann vor mir, der mich nie begleitet hat und trotzdem meine Linien trägt. Oder ich seine.
Es ist ein merkwürdiges Gefühl, seinen Ursprung zu treffen.
Nicht den Vater, den man nie hatte. Sondern den Menschen, in dem ein unsichtbarer Teil von einem selbst wohnt.
Vielleicht ist Blut doch dicker als Zeit. Vielleicht sind wir manchmal näher an unseren Eltern, als wir denken. Gerade dann, wenn sie nie da waren.
Bleibt gesund und wach!




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