“Na wie geht es euch? Kommt ihr gut durch diese besondere Zeit?” fragte ich gestern die Mutter einer Freundin meiner Tochter. “Joa, geht so - alles andere wäre klagen auf hohem Niveau.”
Danach habe ich die beiden Mädels zu ihrem Kunstkurs gebracht, der endlich wieder läuft. Die beiden jungen Damen hatten sich mit dem Mundschutz besser angefreundet als ich und die Rückbank meines Autos war sofort ein Piratenschiff mit zwei Kapitänen.
Wie so oft, habe ich dann auf der Rückfahrt über die Floskel “Klagen auf hohem Niveau” nachgedacht. Was genau heißt das eigentlich? Gibt es auch ”Klagen auf niedrigem Niveau” oder “Klagen auf mittlerem Niveau” oder “Klagen auf keinem Niveau”? Hab ich alles noch nicht gehört - irgendwie klagen wir alle auf “hohem Niveau”. Ist das gut oder schlecht?
Als erste Assoziation kamen mir die “aber” Sätze in den Sinn. Bei “aber” Sätzen kann man ja immer die Aussage vor dem “aber” vergessen und danach kommt dann die eigentliche Aussage. Also zum Beispiel (selbst oft gehört): “Ich finde den Song ganz gut, aber ….:”. “Ich finde den Song ganz gut” ist ja quasi hinfällig und das gedachte kommt dann nach dem “aber”.
Also können wir wahrscheinlich das “Hohe Niveau” weglassen und man sagt einfach - “wir klagen”. Klar findet man immer Leute, denen es schlechter geht und kann dann daran messen, dass es einem selbst doch noch ganz gut geht. Aber was bringt das, wenn ich mich trotzdem nicht wohl fühle?
Der Druck der aktuell auf allen lastet, ist doch wesentlich größer als die meisten zugeben wollen. Und um mich selbst zu beruhigen sage ich dann: “Ich klage auf hohem Niveau”. Nein - “ich klage”, denn es geht mir nicht gut. Aber man darf ja heute nicht zugeben, dass es einem nicht gut geht, oder dass man mit der Situation nicht zurecht kommt. Das ist ja Schwäche …. heute hat man doch immer alles im Griff, ist Souverän. Nur wenn keiner hinguckt und es keiner mitbekommt, dann bin ich schwach und ängstlich. Das ist (glaube ich) wirklich ein Virus unserer Zeit. Wie oft habe ich schon Leute vor mir gehabt, die mir erklärten, wie toll alles läuft und am Stimmfall und in den Augen konnte ich genau das Gegenteil sehen. Wenn man dann ein paar passende Worte findet, bricht es oft aus den Leuten heraus wie ein Vulkan.
Ich würde mir wünschen, die Zeit des sich verstellen und den anderen etwas vormachen, wäre vorbei. Es tut so gut, seine Ängste und Schwächen zuzugeben und sich Freunden und Bekannten zu offenbaren. Für mich ist das wie ein Befreiungsschlag und es fällt eine zentnerschwere Last weg. Einfach ehrlich sein, auch wenn es schwer fällt. Meistens sind die Reaktionen der anderen alles andere als abwertend, sondern verständnis- und liebevoll - so jedenfalls meine Erfahrung.
Ich wünsche mir, dass die Welt in großen Schritten in diese Richtung geht. In meinem Umfeld kann ich das mehr und mehr erkennen.
In diesem Sinne…bleibt wach und gesund.
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