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Westworld

  • Misar
  • vor 5 Stunden
  • 4 Min. Lesezeit

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Es gibt Momente im Leben, in denen uns schlagartig bewusst wird, wie wenig wir eigentlich „neu“ sind. Wie viele unserer Gedanken, Reaktionen und Entscheidungen nicht im Hier und Jetzt entstehen, sondern irgendwo zwischen Herkunft, Geschichte und tief verwurzelten Mustern.

Bei mir war es kürzlich ein Treffen mit meinem Vater (Artikel: “Der ist ja wie ich..”) … Ein Mensch, den ich kaum wirklich kenne — und trotzdem sitze ich ihm gegenüber und entdecke in seinem Blick, in seiner Art zu leben, ja sogar in seinen Pausen, etwas von mir. Eine Art Echo, das ich nicht bewusst gelernt habe und das doch in mir klingt. Diese Erfahrung hat mich zurückgeworfen auf eine alte Frage:


Wie viel von dem, was wir sind, ist eigentlich wirklich „unser“?


Es ist leicht nachvollziehbar, dass Eltern uns prägen. Durch Worte, Gesten, Erwartungen, das tägliche Miteinander oder das tägliche Fehlen. Doch je älter ich werde, desto mehr spüre ich, dass da noch etwas Tieferes wirkt. Etwas, das nicht durch Erziehung entstand, sondern schon vorher still in uns wartete.

Vielleicht ist es so etwas wie eine Grundkonfiguration. Eine Art innere Voreinstellung, die wir mitbekommen, bevor wir überhaupt das erste Mal atmen. Temperament, Grundhaltung, typische Reaktionsmuster… Nicht festgeschrieben, aber angelegt. Manche nennen es Genetik, andere das Erbe der Sippe. Vielleicht ist es beides.


Lange dachte ich, danach käme die eigentliche Prägung durch die Eltern. Doch was ich bisher übersehen hatte, ist die Prägung über den Eltern. Nennen wir sie:


Die System-Prägung


Wir alle wachsen in kulturellen und gesellschaftlichen Räumen auf, die uns Formen geben, die wir kaum hinterfragen. Religion, Traditionen, Moral, Rollenbilder — sie wirken wie unsichtbare Gesetzbücher, die tief in uns abgelegt sind. Eltern prägen uns individuell — Systeme prägen uns kollektiv.

Manchmal begegnen wir Menschen, die zwischen zwei solchen Ordnungen stehen: zwischen persönlichem Gefühl und kultureller Loyalität. Zwischen eigenem Wollen und kollektivem Sollen. Es ist berührend zu sehen, wie stark diese unsichtbaren Netze sind. Wie selbst die Liebe manchmal geheim gehalten werden muss, wenn ganze Systeme im Hintergrund weiterwirken.Und wie schwer es ist, sich davon zu lösen, selbst wenn man es rational könnte.


Kultur ist mehr als Erziehung. Sie ist ein jahrtausendealter Abdruck, der durch Generationen wandert — oft unbemerkt, aber äußerst wirksam. Selbst wenn wir später vieles unserer Erziehung durch die Eltern in Frage stellen, tun wir das bei den kulturellen Vorgaben so gut wie gar nicht. Die Anteile, die Religion, Staatsform und Umwelt haben, erscheinen uns wie in Stein gemeißelt. Und wenn wir auf eine andere Kultur treffen, ist der Schock manchmal groß. Man denkt: „Das geht doch nicht.“ Aber es handelt sich auch hier nur um Prägungen, die – so meine Erfahrung – noch viel tiefer sitzen. Sie wurden nicht nur durch die Eltern, sondern durch das gesamte Kollektiv unbewusst gesetzt und als felsenfest weitergegeben.


Hat der Mensch wirklich einen freien Willen?


Während ich all diese Gedanken sortierte, erinnerte ich mich an ein Buch von Joe Dispenza (Schöpfer der Wirklichkeit). Dort sprach er über Hirnwellen, Bewusstsein und darüber, wie beeinflussbar wir sind, wenn unser Gehirn geschickt stimuliert wird – oder wenn wir müde oder kurz vorm Einschlafen sind. Werbung nutzt diese Momente seit Jahrzehnten. Medien auch.Und wir alle denken, wir seien souveräne Entscheider.


Doch wenn man ehrlich ist, wird einem mulmig bei der Vorstellung, dass ein Großteil unseres „Wollens“ aus Automatismen entsteht, die durch Wiederholungen, Erwartungen und äußere Reize programmiert werden.

Da fällt mir Schopenhauer ein, den ich diese Woche im Gedankentransport zitierte:

„Der Mensch kann zwar tun, was er will, aber er kann nicht wollen, was er will.“


Ich verstehe diesen Satz heute besser denn je. Vielleicht meint er genau das:Wir handeln frei — aber aus Motiven, die selten wirklich frei sind und die wir kaum je hinterfragen.


Die Illusion der vollständig freien Entscheidung


Vielleicht ist der Mensch also keine leere Hardware, wie wir es gerne romantisieren. Wir kommen mit einem genetischen Grundgerüst auf die Welt, aber der Rest wird als Betriebssystem installiert. Und auf diesem Betriebssystem laufen wir dann oft ein Leben lang. Es ist natürlich nur ein „Core-Code“, über dem viele Programme laufen, die uns zu Individuen machen. Aber der Grundcode bleibt bestehen — wie bei den Hosts (humanoiden Robotern) in der Serie Westworld, die ihr ganzes Leben zur Freude der Parkbesucher durchleben. Oder wie Truman Burbank in The Truman Show, der ohne es zu wissen in einer künstlich generierten Welt lebt und sie für echt hält.

Doch sowohl die Hosts aus Westworld als auch Truman spüren irgendwann, dass etwas nicht stimmt. Die Saat des Zweifels geht auf:


Vielleicht bin ich gar nicht frei? Vielleicht ist da noch viel mehr?


Und genau darin liegt die hoffnungsvolle Seite.

Wir können lernen, unser eigener Komponist zu werden, die Melodie unseres Core-Codes neu zu schreiben. Nicht indem wir diese alten Töne ignorieren, sondern indem wir sie bewusst hören. Je klarer wir erkennen, was in uns wirkt, desto weniger müssen wir ihm ausgeliefert sein.

Freiheit entsteht vielleicht nicht durch das Fehlen von Prägung, sondern durch das Erkennen derselben. Ich frage mich heute weniger, wie frei ich bin — sondern wie bewusst.

Denn Bewusstsein schafft Abstand. Und Abstand schafft Wahlmöglichkeiten. Vielleicht beginnt Freiheit genau dort: wenn wir verstehen, wie viel von uns nicht „selbst gemacht“ ist und trotzdem entscheiden, welchen Teil dieser alten Muster wir weitertragen — und welchen wir endlich ablegen dürfen. Viktor Frankl sagte einmal treffend: „Zwischen Reiz und Reaktion liegt die Freiheit.“


Bleibt gesund und wach!



 
 
 

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