Ohne dich...
- Misar
- 21. Nov.
- 4 Min. Lesezeit

Es gibt Sätze aus der Kindheit, die man nicht vergisst. Nicht weil sie laut waren — sondern weil sie ehrlich waren. Oder zumindest ehrlich für diesen einen Moment. Und weil sie einen emotional hart getroffen haben. Einer dieser Sätze kam von meiner Mutter, irgendwann in meiner Jugend. Ich war vielleicht fünfzehn, vielleicht sechzehn. Sie hatte sich über mich geärgert, ich weiß nicht mehr über was. Aber ich erinnere mich an ihre überschlagene Stimme, die Tränen in ihren Augen — und den Satz:
„Ohne dich wäre ich besser dran.“
Sie hat sich später viele, viele Male dafür entschuldigt. Über die Jahre hinweg, fast schon rituell.Aber dieser Satz tauchte jetzt — Jahrzehnte später — wieder in mir auf, als ich einen Vortrag von Dr. Markus Elsässer hörte. Er sagte darin sinngemäß:
„Kinder glauben, dass alle Eltern immer aus Liebe handeln. Und dass Eltern ihre Kinder selbstverständlich lieben müssen. Das ist ein großer Irrtum.“
Diese Aussage hat einige der Zuhörer — mich auch — sofort empört. Gesellschaftlich ist das ja ein absolutes No-Go. Aber ganz ehrlich: Wie oft fühlen wir in Richtungen, die wir uns nicht erlauben, weil sie nicht der gesellschaftlichen Norm entsprechen?
Und da war dieser Satz plötzlich wieder da. Mit all dem verinnerlichten Gefühl, das mich bis heute geprägt hat. Nicht im Sinne von: Meine Mutter hat mich nicht geliebt. Das wäre falsch. Sondern im Sinne von:
Wie viel Wahrheit steckt manchmal in diesen verbotenen Momenten?
Und darf man sie heute überhaupt noch aussprechen?
Elternschaft ist kein romantisches Konzept. Sie ist ein Eingriff.
Wir reden gern darüber, wie sehr Kinder das Leben bereichern — und das stimmt. Aber was wir seltener sagen: Kinder beschneiden ein Leben auch. Sie verändern es fundamental. Sie nehmen Dinge weg und geben andere zurück. Und beides gleichzeitig auszuhalten, ist nicht einfach.
Elternschaft ist kein Upgrade. Sie ist ein kompletter Systemwechsel.
Wenn man ehrlich ist, verliert man als Eltern:
Freiheit
Spontanität
Schlaf
alte Muster
unbeschwerte Anteile der eigenen Jugend
und manchmal sogar Teile der eigenen Identität.
Und gleichzeitig gewinnt man:
Sinn
Tiefe
Reife
Verantwortung
und ein Maß an Liebe, das einen selbst überrascht.
Beides existiert nebeneinander und beides ist wahr.
Darf man manchmal denken, dass das Leben ohne Kinder leichter wäre?
Gesellschaftlich: Nein.
Menschlich: Natürlich.
Es gibt Momente im Elternsein, da wird die Überforderung größer als die Liebe. Da fühlt man sich gefangen in einem Leben, das man zwar gewählt hat, dessen Konsequenzen man aber nie wirklich verstanden hat. Oder wie mein Schwager es ausdrücken würde:
„Wieder so ein Ding, das man beim Poppen nicht auf dem Schirm gehabt hat.“
Keiner kann sich ansatzweise vorstellen, was auf einen zukommt. Vor allem, weil es eine Veränderung für immer ist — es gibt kein Zurück. Und da denkt man vielleicht einen kurzen, scharfen Gedanken wie:
„Ohne dich wäre es einfacher gewesen.“
Das Problem ist nicht der Gedanke. Das Problem ist, dass wir ihn tabuisieren. Als wäre Überforderung ein Makel. Als wäre Liebe eine konstante Größe, die niemals schwankt. Aber kein Gefühl ist konstant. Auch Elternliebe nicht.
Kinder als Spiegel
Ich frage mich, warum dieses Thema gerade jetzt in mir auftaucht. Vielleicht, weil mein Sohn jetzt ungefähr in dem Alter ist, in dem ich damals war. Auch wenn ich mit ihm diese Thematik nicht habe — die Zeit selbst kommt zurück. Kinder spiegeln unsere eigene Geschichte.
Mit jedem Jahr, das sie älter werden, gehen wir rückwärts durch unsere eigene Jugend. Manchmal unmerklich, manchmal brutal direkt.
Ich erinnere mich noch genau, als er in der vierten Klasse war und das erste Mal auf Klassenfahrt fahren sollte. Ich brachte ihn zur Schule — und mit jedem Meter wurde die Stimmung bedrückender. Als wir im Klassenraum ankamen, fing er an zu weinen – er wollte nicht mit.
Das kannte ich nur zu gut und der Schmerz in mir wurde unglaublich groß. Ich behielt die Fassung, sprach ruhig mit ihm — und seine Lehrerin und die Klasse kümmerten sich wunderbar um ihn. Das war bei mir damals anders.
Ich schaffte es gerade noch ins Auto … und brach zusammen. Der ganze alte Schmerz saß noch in mir — und musste raus. Eine der tiefen Wunden, die ich nicht weitergegeben habe.
Er fuhr mit und kam glücklich zurück. Die nächsten Klassenfahrten erwartete er voller Vorfreude — während sich in mir jedes Mal ein leichtes Unwohlsein meldete.
Heute ist er fünfzehn Jahre alt und vielleicht ist es kein Zufall, dass der Satz meiner Mutter ausgerechnet jetzt wieder aufgetaucht ist. Als würde mein System sagen: „Schau da nochmal hin.“
Elternliebe ist kein Zustand, sie ist ein Prozess. Man muss seine Kinder nicht in jedem Moment lieben. Das ist ein unrealistischer Anspruch. Man muss sie nicht mögen – nicht immer, nicht in jeder Phase. Liebe ist kein Dauerzustand mit Garantie. Liebe ist ein Strom, der fließt, stockt, über die Ufer tritt oder sich zurückzieht. Vielleicht ist der mutigste Akt im Elternsein nicht das Ideal —sondern die Ehrlichkeit.
Die Ehrlichkeit zu sagen:
Ich bin überfordert.
Ich bin verletzt.
Ich kann gerade nicht.
Ich liebe dich, aber ich mag dich gerade nicht.
Oder: Ich liebe dich, aber ich brauche Raum.
Und gleichzeitig:
Ich bleibe.
Ich trage die Verantwortung.
Ich wachse an dir — und du an mir.
War meine Mutter ohne mich besser dran?
Vielleicht in manchen Momenten, vielleicht im Affekt. Vielleicht emotional, nicht rational. Vielleicht wäre ihr Leben leichter gewesen — aber definitiv anders. Ob besser oder schlechter? Lasse ich einfach im Raum stehen. Und vielleicht ist genau das der Punkt:
Kinder machen das Leben nicht leichter, aber sie machen es tiefer. Und Tiefe ist selten bequem.
Dieser Satz meiner Mutter hat mich auf jeden Fall geprägt. Er ist einer der Gründe, warum ich Menschen nicht zur Last fallen möchte, mich schnell zurückziehe und in vielen Beziehungsthemen lieber auf Abstand bin.
Auch wenn er vor über 35 Jahren im Affekt gesagt wurde, hat er eine tiefe Kerbe hinterlassen. Er mahnt mich bis heute, aufzupassen, was ich gegenüber meinen Kindern äußere. Manche Dinge kann man auch mit tausend Entschuldigungen nicht ungeschehen machen.
Bleibt gesund und wach.




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