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Spiegelei


In den letzten Monaten schaffe ich es tatsächlich täglich meine Bewegungsringe zu schließen - soll mal einer sagen, dass die Smartwatch bei mir nichts bringt. Dazu gehört unter anderem ein täglicher Spaziergang zwischen zwei und vier Kilometern und bei diesem Wetter ca. 50 Bahnen im Hauseigenen Pool. Ok, ok - er hat nur einer Länge von 6 Metern, ich will ja hier nicht angeben.


Eben war ich auf dem Rückweg meines täglichen Spaziergangs rund um mein Büro und als ich wieder auf der Hauptstraße ankam, fiel mein Blick auf das Vorfahrtsstraßenschild und ich schweifte kurz in das Jahr 1989 zurück, als ich in der Fahrschule saß. Mein damaliger Fahrlehrer Herr Linn erklärte in der ersten Stunde die Schilder und verknüpfte in meinem Hirn die Vorfahrtsstraße mit dem Spiegelei, was sich bis heute phänomenal in meinem Gedächtnis gehalten hat. Da ich mich vor kurzem erst mit Gedächtnistraining beschäftigt hatte, demonstrierte mir auch dieses Beispiel, wie viel besser man mit bildlichen Assoziationen lernt. Mein messerscharfer Verstand machte aus dem Vorfahrtsstraßenschild das Spiegelei und aus dem Spiegelei dann „die Spiegelei“ … was meine letzten Wochen auch sehr gut beschreibt…


Gerade in den letzten Beiden Wochen wurden wieder einige meiner alte Wunden durch Situationen und Personen, die mir meinen Spiegel vorhielten, angetriggert. Weiter auf dem Rückweg ließ ich diese noch einmal Revue passieren und musste feststellen, wie sehr man - trotzdem man sie alle kennt und schon viel daran gearbeitet hat - ihnen doch immer wieder verfällt. Angekommen in einer dieser Triggerfallen gibt es nur die Wahl zwischen


Flucht oder Kampf?!


Tatsächlich schaffe ich es inzwischen sehr oft, dem ganzen eine dritte Auswahlmöglichkeit hinzuzufügen:


Notausgang!


Im Schwall der hochkochenden Emotionen tut sich inzwischen ab und zu ein kurzer, klarer Moment auf und der im Eilschritt auf der Treppe nach unten rennende Michael hält kurz inne und sieht einen Notausgang. Ein beherztes aufstoßen der Tür und raus in die wärmende Sonne…und auf einmal ist alles so, als wäre nichts gewesen. Ich freue mich auf den Tag, an dem ich dass immer schaffe.


Eins meiner großen Themen ist die Ungerechtigkeit. Wenn ich mich ungerecht behandelt oder übergangen fühle, befinde ich mich quasi direkt auf der Treppe, runter in den Emotionskeller. Dabei muss ich noch nicht mal ungerecht behandelt worden sein - ein Konstrukt in meinem Kopf, dass es eventuell so kommen könnte, reicht völlig aus. Und schon bin ich emotional im Kleinkindalter und haue mit der Schaufel um mich und schimpfe wie ein Irrer - natürlich ohne Zuschauer, nur mit mir alleine. Seit Jahren kenne ich das und weiß das auch, aber es kommt immer mal wieder, wenn auch deutlich seltener. Die großen Wunden der Vergangenheit sitzen einfach sehr, sehr tief. Umso besser, dass der Notausgang inzwischen sehr oft präsent ist - leider noch nicht jedesmal.

Neulich habe ich mich auf ein wichtiges Gespräch zu einem Thema vorbereitet, bei dem ich mich in der Vergangenheit ungerecht behandelt gefühlt habe. Schon Tage vor dem Gespräch habe ich mir ein wortgewaltiges Waffenarsenal für alle Eventualitäten zurechtgelegt und bin das Gespräch immer und immer wieder strategisch durchgegangen. Kurz vor dem Gespräch war ich schon emotional unter Volldampf. Eine meine guten Eigenschaften ist aber, dass ich in dem Moment, an dem die tausendmal durchgespielte Szene sich ereignet, völlig im Hier und Jetzt bin. Ich habe dann ruhig und sachlich meinen Standpunkt vorgetragen und wie ich es am Besten fände … und dann kam schlicht und ergreifend die Zustimmung aller beteiligten Parteien. Jetzt stand ich da mit meinem ganzen Waffenarsenal für das bevorstehende Wortgefecht und es fand gar nicht statt. Ich war natürlich höchst zufrieden und musste mal wieder über mich selber schmunzeln … was habe ich mir da wieder alles in den dunkelsten Grautönen ausgemalt, obwohl ich nur Buntstifte gebraucht hätte. Da war der Notausgang im Vorfeld leider noch nicht zur Stelle, aber das nächste mal kommt er sicher auch in solch einer Situation.


Im Rückblick war das ganze für mich eine schöne Ansammlung von Personen und Situationen, die mir mal wieder schonungslos den Spiegel vorgehalten haben. Der Psychologe Robert Betz hat für solche Personen die schöne Bezeichnung „Arschengel“, welche ich sehr treffend finde und die inzwischen in meinen alltäglichen Wortschatz Einzug gehalten hat. Auf www.bedeutungonline.de/arschengel/ habe ich eine schöne Zusammenfassung dazu gefunden:


Arschengel: Wer oder was sind die Arsch-Engel von Robert Betz?

Bezeichnung für nicht-gemochte Menschen, die negative Gefühle (wie Ärger, Wut, Enttäuschung, Ohnmacht, Hilflosigkeit, usw.) in uns auslösen, in dem sie etwas tun, etwas sagen das verletzt oder etwas nicht tun, was erwartet wurde. Die erlebte Reaktion weißt auf unverarbeitete und nicht-gelebte Gefühle hin, die für Unfrieden mit sich selbst sorgen. Als ein Beispiel nennt Robert Betz unter anderem die ordentliche Mutter, die sich über ihre unordentliche Tochter aufregt. Während die Mutter ihre Ordentlichkeit mit jeder Faser lebt, so hat sie die Unordentlichkeit ausgeklammert. Damit ist das System nicht im Gleichgewicht. Die Tochter wird nun unordentlich, damit im System beide Pole vorherrschen. Damit ist die Tochter für die Mutter ein Arschengel und weißt die Mutter – durch die Gefühle die die Mutter erlebt – auf das unverarbeitete hin. Weitere Arschengel-Beispiele:

  • Eine Zurechtweisung durch den Chef.

  • Kritik anderer Leute.

  • Personen, die denken das sie alles wissen und ihre Meinungen stets kundtun.

  • Personen, die abfällig über andere reden.

  • Menschen, die Emotionen in uns auslösen. Menschen die uns triggern.

Arschengel sind auch Menschen deren Verhalten man ablehnt oder die Eigenschaften aufweisen, die man ablehnt. Folgende Gefühle können durch einen Arschengel erlebt werden:

  • Ärger

  • Wut

  • Enttäuschung

  • Ohnmacht

  • Hilflosigkeit / Kleinheit

  • Hass

  • Eifersucht

  • Neid

  • Missgunst

  • Schuld

  • Trauer

  • Scham


Ich bin mir sicher, jedem von euch fallen sofort ein oder zwei „Arschengel“ ein…seid ihnen dankbar und nutzt den Spiegel um zu sehen, was sie euch wirklich zeigen.


So bin ich dann wieder nach meinem Spaziergang im Büro angekommen, habe diesen Text geschrieben und staune über meine Gedanken: Was so ein banales Vorfahrtsstraßenschild doch alles hervorbringen kann.


Bleibt gesund und wach!


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